„Wir wollen weg von der Maßnahmen-Karriere“

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ProJob

Rheingau-Taunus-Kreis und ProJob GmbH gehen neue Wege bei Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt / Erstes Aktivierungs- und Förderzentrum in Deutschland

Rheingau-Taunus-Kreis und ProJob GmbH gehen neue Wege bei Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt / Erstes Aktivierungs- und Förderzentrum in Deutschland

„Wir wollen weg von der Maßnahmen-Karriere und hin zu einer höheren Effektivität bei der Integration von Langzeitarbeitslosen, von jungen Erwachsenen ohne jegliche Ausbildung sowie von Flüchtlingen in den ersten Arbeitsmarkt“, betont Martin Glaub. Der Geschäftsführer der ProJob Rheingau-Taunus GmbH weiß genau, wovon er spricht: „Wer längere Zeit arbeitslos ist, der wird von Arbeitsagenturen oft von einer Maßnahme zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung in die andere geschickt; das startet meist mit dem Bewerbungstraining von starren drei Monaten und setzt sich in klassischen Maßnahmen alten Typs fort.“ Ob der Langzeitarbeitslose dadurch wirklich fit für den Arbeitsmarkt gemacht wird, ist für Glaub zu hinterfragen: „Denn nicht die Anzahl der besuchten Maßnahmen ist entscheidend, sondern das was in der Maßnahme geschieht.“

Der Rheingau-Taunus-Kreis mit dem Kommunalen JobCenter und der ProJob Rheingau-Taunus wollen nun neue Wege gehen, um Langzeitarbeitslose, um junge Erwachsene ohne Ausbildung sowie die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren - das Modell ist bundesweit einzigartig. „Wir haben fast Vollbeschäftigung im Kreis und doch gibt es eine bestimmte Zahl an Menschen, die seit vier, fünf, sechs oder mehr Jahren ohne Job sind. Für uns ist jedoch jeder Arbeitsloser einer zu viel. Zumal, wenn wir uns dann noch die Nachfrage nach Personal auf dem Arbeitsmarkt betrachten“, erläutert Landrat Frank Kilian und weiter: „Es sollte uns gelingen, dass die öffentlichen Fördermaßnahmen wirklich zu dem jeweiligen, arbeitslosen Menschen passen und nicht umgekehrt.“ Deshalb unterstützt Kilian das neue Fallsteuerungsmodell (fa:z-modell), das im Herbst 2017 vom Kommunalen JobCenter eingeführt wurde, und das Aktivierungs- und Förderzentrum im Rheingau (AFZ), das am 1. März 2019 in Geisenheim seine Arbeit aufgenommen hat.

Glaub: „Jeder Mensch hat Talente und Fähigkeiten. Diese herauszukristallisieren, dem Arbeitslosen zu verdeutlichen, dass er etwas kann, ihn oft auch weg von den eigenen Selbstzweifeln zu holen und ihn aus der sozialen Isolation zu befreien, dass wird die Aufgabe der Mitarbeitenden im AFZ sein.“ In den Gesprächen erkennen die sogenannten „persönlichen Entwicklungslotsen“ schnell, an welchen Stellen es bei dem Gegenüber noch an einer Unterstützung und der Förderung bedarf. „Durch das vom Kommunalen JobCenter erarbeitete Profil wird etwa festgestellt: Ein Arbeitsloser benötigt beispielsweise einige Hinweise, wie er seine Bewerbungsunterlagen optimaler gestalten kann. Ihn muss ich deshalb nicht unbedingt drei Monate in ein Bewerbungstraining schicken, in dem er sich nach der zweiten Woche langweilt, weil er die erhaltenen Hinweise bereits umgesetzt hat“, berichtet der ProJob-Geschäftsführer.

„Die weitere Zeit können wir produktiv nutzen, um beispielsweise an der Motivation zu arbeiten, um Kompetenzen zu stärken. Wir konzentrieren uns dann auf andere Förderbedarfe bei dem jeweiligen Kunden, um ihm schnell den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Die Teilnehmenden können sich zudem „ausprobieren“, etwa im Bistro im Gebäude von ProJob in der Chauvignystraße 21 in Geisenheim. „Personal wird im Gaststättengewerbe händeringend gesucht“, ergänzt Christoph Burgdorf, Geschäftsführer der ProJob. Die Teilnehmenden können im Secondhand-Laden ihre Kreativität unter Beweis stellen. „Aus Tetrapak-Verpackung basteln die Teilnehmer zum Beispiel Präsente zum Verkauf“, so Burgdorf.

Dadurch werden den Teilnehmenden ganz neue Perspektiven für die berufliche Weiterentwicklung aufgezeigt. Schließlich bleibt das oberste Ziel der Aktivitäten: „Wir wollen die Arbeitslosenquote weiter senken.“ Wegen des bundesweiten Pilotcharakters des neuen Aktivierungs- und Förderzentrums wird es vom Land Hessen gefördert und darüber hinaus ist eine wissenschaftliche Begleitung durch einen Professor der Hochschule RheinMain garantiert, so Martin Glaub.



Präsentation des Modells durch die ProJob GmbH / Erste Erfahrungen

Mit dem im März d. J. in der Chauvignystraße 21 in Geisenheim gestarteten Aktivierungs- und Förderzentrum (AFZ) Rheingau versuchen die ProJob Rheingau-Taunus und das JobCenter des Rheingau-Taunus Kreises, neue Wege in der Förderung von arbeitsuchenden Menschen zu gehen. Im Herbst 2017 wurde im Kommunalen Job-Center des Rheingau-Taunus-Kreises das Fallsteuerungsmodell (fa:z-modell) eingeführt. Mit Hilfe dieses Fallsteuerungsmodells sollen folgende Ziele erreicht werden:

•    Systematische Erhebung des quantitativen und qualitativen Förderbedarfs der Kunden im JobCenter
•    Bereitstellung eines passgenauen Förderangebotes (Maßnahmen bei ProJob)
•    Systematische Überprüfung der Zielerreichung von Maßnahmen

Hierbei fokussiert der Ansatz auf vorhandene Fähigkeiten und Ressourcen der Kunden und nicht auf deren Defizite. Im Sinne der Stärkung vorhandener Stärken und der Schwächung vorhandener Schwächen, liegt dem fa:z-modell eine definierte Grundstruktur an Förderzielen und Ressourcenbereichen in Form einer Matrix-Struktur zugrunde. Die Förderziele und die jeweils zugeordneten und zu stärkenden Ressourcenbereiche sind:

1.    Förderziel: Direktvermittlung Stärkung der Ressourcenbereiche: Bewerbungs- und Stellensucherverhalten

2.    Förderziel: Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit Stärkung der Ressourcenbereiche: Qualifikation, Arbeitsverhalten, Sozialverhalten, Motivation / Arbeitsmotivation

3.    Förderziel: Herstellung der Prozessfähigkeit Stärkung der Ressourcenbereiche: Mitwirkung in der Fallsteuerung, Rahmenbedingungen, Lebenspraktische Kompetenzen

4.    Förderziel: Stabilisierung der Erwerbsfähigkeit Stärkung der Ressourcenbereiche: Leistungsfähigkeit

In einem Gespräch mit dem SGB-II-Kunden ermittelt der Fallmanager im JobCenter die vorhandenen Potentiale (Potenzialanalyse) und welches Ziel als Nächstes erreicht werden soll. Er schließt danach eine Eingliederungsvereinbarung mit dem Kunden ab und weist ihn gezielt einer Maßnahme zu.
Im Anschluss an die Maßnahme führt der Fallmanager erneut eine Potentialanalyse mit dem Kunden durch und stellt fest, ob der Kunde mithilfe der Maßnahme das zuvor vereinbarte Ziel erreicht hat. Zeichnen sich die klassischen Angebote (Maßnahmen) in der Arbeitsförderung bisher häufig dadurch aus, dass diese enge Vorgaben an zu vermittelnde Inhalte (bspw. Bewerbungstraining) haben und wenig flexibel auf individuelle Bedarfe der Teilnehmenden eingehen können bzw. aufgrund der Vorgaben eingehen dürfen, möchte das AFZ den einzelnen Menschen stärker in den Mittelpunkt stellen.
Die Unterstützung und Förderung soll dem individuellen Bedarf des Einzelnen besser entsprechen, als dies in den klassischen Trainingsmaßnahmen bisher möglich war. Nicht der
„Teilnehmer soll also zur Maßnahme passen, sondern die Maßnahme soll so gestaltet sein, dass flexibel und bedarfsgerecht die erforderlichen Angebote bereitstellt werden“.

Dass in diesem neuen Modell der gerne zitierte Ansatz der „Hilfe zur Selbsthilfe“ ebenfalls von zentraler Bedeutung ist, wird darin sichtbar, dass die Teilnehmenden nicht auf das reduziert werden, was sie nicht oder noch nicht können, sondern an dem angesetzt wird, was sie an Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen, Erfahrung und Interesse, also an den sog. Ressourcen mitbringen. Die Teilnehmenden selbst sollen stärker als bisher „ihren Weg“ aktiv mitgestalten, um ihr individuelles Ziel zu erreichen. Regeln und starre Abläufe sollen dabei durch mehr Flexibilität ersetzt werden.

Das AFZ hält dazu in der Chauvignystraße und in den Beruflichen Schulen Rheingau, in denen eine Holz- und Metallwerkstatt sowie eine neu eingerichtete Fahrradwerkstatt untergebracht sind, eine Vielzahl unterschiedlicher Förderelemente bereit, die je nach Bedarf des Teilnehmenden genutzt werden können. So z. B.

•    Stellenrecherche und –auswertung
•    Erstellen von Bewerbungsunterlagen
•    Service und Kundenorientierung
•    Zubereitung und Präsentation von Speisen
•    Berufsrelevante Soft Skills
•    Kommunikation
•    Stilberatung
•    EDV-Training
•    Betriebliche Praktika
•    Kreative Handarbeiten
•    Lagerhaltung und Bestellwesen
•    Soziale Kompetenzen
•    Psychosoziale Begleitung
•    Reparatur u. Wartung von Fahrrädern
•    Produktion und Pflege von Pflanzen
•    Verkauf
•    Landschaftsgestaltung u. Naturschutz (in Vorb.)
•    Ernährung
•    Gesundheit und Bewegung
•    Upcycling
•    Lern- und Arbeitstechniken
•    Staplerschein
•    Frauenkompetenzen
•    Vorträge und Exkursionen

Die vielfältigen Angebote können nicht alle gleichzeitig, sondern werden je nach Bedarf der Teilnehmenden und der räumlichen und personellen Möglichkeiten der ProJob angeboten.
Für die ProJob und ihre Mitarbeitenden bedeutet dieser neue Arbeitsansatz eine echte Herkulesaufgabe. Sämtliche bisherigen Arbeitsweisen und Arbeitsprozesse müssen neugestaltet werden. Die gesamte Organisation der vielfältigen Förderangebote für die max. 120 Teilnehmenden erfordert viel Geschick von den Mitarbeitenden der ProJob und läuft gerade zum Start des neuen Modells hin und wieder noch nicht ganz rund. Dies ist bei Veränderungen, zumal wenn diese so grundlegend sind, ganz normal und kann auch als gutes Übungsfeld auch für die Teilnehmenden im Umgang mit Veränderungen genutzt werden.

Das AFZ ist nach Kenntnis der Verantwortlichen in dieser Form bundesweit einzigartig und hat somit Modellcharakter. Auf Erfahrungswerte kann die ProJob GmbH daher nicht zurückgreifen und betritt gemeinsam mit dem JobCenter sprichwörtlich „Neuland“. Hohes Interesse an dem AFZ hat auch das Hessische Ministerium für Soziales und Integration. Es unterstützt das AFZ- Modell durch die Finanzierung einer Prozessbegleitung aus Mitteln des Ausbildungs- und Qualifizierungsbudgets. Die Prozessbegleitung wird von Prof. Dr. Michael Klassen, der an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden lehrt, durchgeführt.