„Wir wollen hier Inklusion leben!“

|

Soziales

Inklusives Monatsgespräch: Landrat Kilian und die Behindertenbeauftragten Anita Seidel und Günter Soukup besichtigen den Campus Freistil in Rüdesheim am Rhein

llInklusives Monatsgespräch: Landrat Kilian und die Behindertenbeauftragten Anita Seidel und Günter Soukup besichtigen den Campus Freistil in Rüdesheim am Rhein / Beeindruckt von dem Konzept und der Umsetzung

Die sieben Häuser am Rande Rüdesheims stechen schon durch die hierzulande noch seltene Holzfassade hervor. Die wiederum Fragen hinterlässt, was sich wohl hinter der Verkleidung „verbirgt“? Ein Areal, das sich offen und transparent, aber auch sehr feingliedrig dem Gast von außen darstellt. Es gibt viel Freiraum zwischen den Häusern, den Marktplatz als Treffpunkt und die Gärten. „Wir wollen hier Inklusion leben“, bringt es Petra Bühl von der SCIVIAS Caritas gGmbH auf den Punkt. Unter mehreren Dächern werden auf dem Gelände in Rüdesheim am Rhein Inklusion und generationsübergreifendes Wohnen gelebt. Beim Rundgang und später beim Treffen mit Bewohnern spürt jeder, dass eine Gemeinschaft entstanden ist, dass es enge menschliche Bindungen gibt.

Das außergewöhnliche Wohnprojekt Campus Freistil der Ideengeber, der Familie Glock, bietet auf einem Areal barrierefreien Wohnraum für Senioren sowie Menschen mit Mobilitätseinschränkungen in autarken Eigentumswohnungen, für Studenten in Wohngemeinschaften und für Menschen mit erhöhtem Pflege- und Betreuungsbedarf in intensiv ambulant betreuten kleinen Wohngemeinschaften an.

Die Idee zu diesem Wohnprojekt hatten Andel und Günter Glock. Miro, der behinderte Sohn von Andel und Günter Glock, war der Anlass, das ungewöhnliche Wohnprojekt in Angriff zu nehmen. Der junge Mann braucht rund um die Uhr Betreuung. Plätze in Wohngruppen sind jedoch rar. So gingen die Glocks selbst unter die Bauherren. Zwei Projektgesellschaften wurden gegründet. Bei der Umsetzung beschritt das Ehepaar neue Wege und fand Partner, wie die SCIVIAS Caritas gGmbH, die Hochschule Geisenheim University und den Verein „RÜD Aktiv“, die das außergewöhnliche Projekt unterstützen. Über das Projekt informierten sich nun Landrat Frank Kilian und die beiden Behindertenbeauftragten des Kreises, Anita Seidel und Günter Soukup, beim zweiten Inklusiven Monatsgespräch.

Rund 70 Bewohner soll das Areal einmal beherbergen. Aber schon jetzt „lebt“ das Grundstück, spricht Andel Glock von einer Gemeinschaft. „Wenn unsere Studenten die Gärten bepflanzen, kommen alle Bewohner zusammen. Die Senioren bringen ihre Erfahrungen ein und die Menschen mit intellektuellen und/oder körperlichen Beeinträchtigungen sind vollkommen integriert. Alle gruppieren sich dann um den Garten herum!“, berichtet sie voller Begeisterung. „Wer hierher zieht, der will solche Kontakte zu den Nachbarn haben, der findet aber auch seine Rückzugsmöglichkeit in Form seiner Wohnung“, ergänzt sie.

Das Areal soll aber nicht nur den Bewohnern gehören. Es soll als Quartier auch für die Rüdesheimerinnen und Rüdesheimer dienen. So soll schon bald der Inklusions-Treffpunkt in einem der Gebäude seine Pforten öffnen. Unterstützung gibt es vom ortsansässigen Verein RÜD Aktiv. „Aber auch die Studenten haben bereits vielfältige Ideen entwickelt, um den Inklusions-Treffpunkt mit kleiner Küche mit Leben zu fühlen“, erzählt Günter Glock: „Solch ein Café fehlt in diesem Bereich Rüdesheims noch. Wir wollen eine Begegnungsstätte für Jung und Alt und für Menschen mit oder ohne Einschränkungen schaffen.“

Im unteren Gartenbereich stehen vier Gebäude, die durch ihre Transparenz, den Innenhof und große Glasfassaden bestechen, in denen Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung leben, die einer intensiven, ambulanten Betreuung bedürfen. Dort sind unter anderem fünf Klienten mit intellektuellen und körperlichen Beeinträchtigung in eine betreute WG eingezogen. „Wir bieten Hilfe an. Die jungen Menschen leben aber auch sehr selbstständig, übernehmen Aufgaben und Dienste und tragen somit Verantwortung für ihre WG. Sie gestalten die Abläufe mit“, berichtet Daniel Reichmann, Leiter der „Eingliederungshilfe“ der SCIVIAS Caritas gGmbH.

Zentrum des Gebäudes ist die moderne Küche, in der gemeinsam gekocht und gegessen wird. Die Bewohner haben dabei ihre Aufgaben. Campus-Mitbewohner und Student Tobias Blasius unterstützt dabei, weil er „das Konzept gut findet“. Er bietet Radtouren an. Oder er geht mit den Bewohnern gemeinsam einkaufen, um dann das Essen vorzubereiten. Herzstück der Küche ist dabei das digitale Kochbuch mit seiner „speziellen“ Software. Auf Berührung präsentiert das Programm Kochrezepte und die dafür notwendigen Lebensmittel. Die finden sich auf der – ausgedruckten – Einkaufsliste wieder. „Und dann marschieren wir los und kaufen ein“, erzählt Blasius. Und Reichmann ergänzt: „Durch das Wohnkonzept sind wir hier viel näher an den Bedürfnissen der Menschen dran.“

Das SCIVIAS-Team sieht aber noch weitere Potentiale und Gestaltungsmöglichkeiten. Laut Petra Bühl will man eine inklusive Tagespflege einrichten. Dafür sieht sie einen erheblichen Bedarf. Ein Projekt, das in dieser Form deutschlandweit noch sehr selten vorkommt. „Wir befinden uns in guten Gesprächen“, verrät sie.

Nach Abschluss des Rundganges spricht Landrat Frank Kilian dann auch von einem Vorzeigeobjekt, das kopiert werden sollte. Auch Anita Seidel und Günter Soukup zeigen sich von dem Konzept und der Umsetzung beeindruckt: „Im Campus Freistil wird Inklusion wirklich gelebt.“ Die Bewohner, ob Senioren, Studenten oder Menschen mit Handicap profitierten von einander, weil sie in diesem offenen Quartier miteinander leben, offen aufeinander zugehen. Ob Andel und Günter Glock das außergewöhnliche Wohnprojekt auch an anderer Stelle realisieren werden, fragt Landrat Kilian. Es folgt ein Kopfschütteln. „Für solch ein Projekt braucht es ein unheimliches Knowhow und viele Kenntnisse der Rechtslage“, sagt Glock. Zudem mussten auch viele Hürden überwunden werden. „Hätten wir nicht kompetente Ansprechpartner in der Kreisverwaltung wie beispielsweise Andrea Horne und Elke Jörg-Pieper vom Fachdienst Soziales gefunden, die uns mit ihrem Wissen unterstützten, weiß ich nicht, ob wir das Projekt hier in Rüdesheim realisiert hätten“, so Andel und Günter Glock. Das Ehepaar wie die Partner konzentrieren sich nun auf die Umsetzung ihres Konzepts.

Fotos:
Andel (2. von links) und Günter Glock (4. von rechts) erläutern Landrat Frank Kilian (links) und den Gästen das Konzept des Inklusion-Treffpunkts.

Das Herzstück der WG-Küche: Mitbewohner und Student Tobias Blasius (2. von rechts) präsentiert das digitale Kochbuch.

Zur Entspannung: Petra Bühl zeigt Günter Soukup die Vorteile des Wasserbettes.

Andel (2. von links) und Günter Glock (4. von rechts) erläutern Landrat Frank Kilian (links) und den Gästen das Konzept des Inklusion-Treffpunkts.
Das Herzstück der WG-Küche: Mitbewohner und Student Tobias Blasius (2. von rechts) präsentiert das digitale Kochbuch.
Zur Entspannung: Petra Bühl zeigt Günter Soukup die Vorteile des Wasserbettes.