„Bei der Personal­auswahl sind noch nicht alle Potentiale ausge­schöpft“

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Prof. Dr. Martin Kersting wirbt bei der Jahres­tagung des Bündnisses für den Mittelstand für vorurteilsfreie Rekrutierungs­modelle / Derzeitiger Personal­mangel ist hausgemacht

 

Prof. Dr. Martin Kersting wirbt bei der Jahrestagung des Bündnisses für den Mittelstand für vorurteilsfreie Rekrutierungsmodelle / Derzeitiger Personalmangel ist hausgemacht

„Die Bewerbungsunterlagen des Mannes sind fast identisch“, erzählt Prof. Dr. Martin Kersting: „Der Lebenslauf, die Zeugnisse und Zertifikate ebenso wie das Passbild.“ Das Foto zeigt einen Mann im Alter von zirka 30 Jahren mit dunkeln Haaren. Auf den kleinen Unterschied, der aber entscheidend für die These des Lehrstuhlinhabers für Psychologische Diagnostik an der Justus-Liebig-Universität in Gießen verbirgt sich im unteren Teil der Unterlage. „Dort steht einmal ein deutsch und einmal ein ausländisch klingender Name“, so der Referent und fragt: „Wer wurde öfter zu Bewerbungsgesprächen eingeladen?“ In einer wissenschaftlich Studie wurde die Reaktion getestet und die lautet knapp: Die Unterlagen des Bewerbers mit dem deutsch klingenden Namen wurden in den engen Kreis bei der Personalauswahl  genommen.

Für Prof. Dr. Martin Kersting ein Beweis, dass bei der Personalauswahl in Deutschland noch viel zu oft, alte Auswahlkriterien gelten, oft Vorurteile vorherrschen. Der 50-Jährige war am Dienstag zur Jahrestagung des Bündnisses für den Mittelstand im Rheingau-Taunus-Kreis gekommen, um über „Personalauswahl zu Zeiten des Demografischen Wandels“ zu sprechen, wobei er sogleich den Titel revidierte: „Der Demografische Wandel und die Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt werden erst 2016, 2017 greifen. Der derzeit feststellbare Personalmangel ist hausgemacht.“ Denn laut dem Referenten werden bei der Personalauswahl in Deutschland viele vorhandende Potentiale nicht ausgeschöpft.

Seine These unterstreicht Prof. Kersting an vier Beispielen. Menschen mit Migrationshintergrund hätten es im Bewerbungsverfahren immer noch sehr schwer. „Dass wir in einer sich komplett wandelnden Gesellschaft leben, ist vielen noch nicht bewusst.“ Über 50 Prozent der Kunden eines Unternehmens werden in naher Zukunft einen Migrationshintergrund besitzen. Zudem beklagt Kersting, dass der aktuelle Mangel an Fachkräfte „Folge einer vollkommen verfehlten Bildungspolitik ist“ und mahnt höhere Investitionen an. „Wir sind das Land, das nicht in Bildung investiert.“ Das Potential der über 55-Jährigen werde kaum gesehen. Zudem sieht der Referent „rund sechs Millionen topausgebildete Frauen ohne Vollzeit-Job“, weil diesen keine beruflichen Perspektiven geboten werden. Auch Langzeitarbeitslose erhielten selten eine Chance, in einem Bewerbungsgespräche ihre Fähigkeiten darzulegen.

Wer zu den beschriebenen Gruppen gehöre, dessen Bewerbungsunterlagen würden schon bei der ersten Sichtung in dem Unternehmen aussortiert, berichtet Kersting. Dafür macht der Gießener Professor für Psychologische Diagnostik vor allem zwei Gründe verantwortlich: Fehleinschätzungen und Fehlbewertungen basierend auf Vorurteilen, die bei fast allen Menschen vorherrschen, die in der Persönlichkeit verankert sind. Sich von diesem „automatischen Denken“ zu lösen, als Unternehmer neue Rekrutierungsmodell bei der Personalauswahl zu nutzen, dazu ruft Prof. Dr. Martin Kersting auf.

In der anschließenden Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Kersting, Landrat Burkhard Albers, dem Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Wiesbaden, Bernhard Mundschenk, dem IHK-Geschäftsführer Dr. Klaus Schröter und dem Kreishandwerksmeister Siegfried Huhle, die von Anke Seeling moderiert wurde, wies vor allem Huhle darauf hin, dass in seinem Betrieb neue Weg bei Personalgewinnung gegangen werden. „Wir haben einem jungen Mann mit Behinderung eine Ausbildungsstelle gegeben, der heute zu unserem Stamm an Mitarbeitern gehört.“ Zudem gebe es ein Vereinbarung mit zwei langjährigen Mitarbeitern: „Beide sind 70 Jahre alt und arbeiten in Teilzeit bei uns, weil sie sich immer noch rüstig und fit fühlen.“

Landrat Burkhard Albers hatte zuvor die Jahrestagung des Bündnisses für den Mittelstand eröffnet, dem seit 2005 die IHK Wiesbaden, die Handwerkskammer und Kreishandwerkerschaft Wiesbaden-Rheingau-Taunus angehören. Albers wies daraufhin, dass sich der Kreis viele Angebote unterhalte, damit ein lebensbegleitendes Lernen für jeden möglich ist. „Das Angebot ist vielfältig, beginnt beim Ziel, dass kein Jugendlicher ohne Ausbildung bleibt, geht über die Qualifizierung und Weiterbildung im aktiven Berufsleben und endet bei der Unterstützung beim Übergang vom Beruf in die Rente.“

Diskutiert über Berufs- und Personalwahl in Zeiten des Demografischen Wandels (von links): der IHK-Geschäftsführer Dr. Klaus Schröter, der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Wiesbaden, Bernhard Mundschenk, Kreishandwerksmeister Siegfried Huhle, Landrat Burkhard Albers und Prof. Dr. Kersting. Rechts Moderatorin Anke Seeling.